20 Art. 220 StGB, Entziehen von Unmündigen:
Der alleinige Inhaber der elterlichen Obhut kann, selbst wenn er das Be-
suchsrecht des andern Elternteils vereitelt, nicht Täter im Sinne von
Art. 220 StGB sein. Der Tatbestand schützt nicht die elterliche Sorge als
solche, sondern das Recht, über den Aufenthalt des Unmündigen zu be-
stimmen.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 2. Strafkammer, vom 22. Juni 2004
i.S. Staatsanwaltschaft gegen B. S.
2. Gemäss Art. 220 StGB (in der seit 1. Januar 1990 gültigen,
gegenüber der früheren geringfügig geänderten Fassung, AS 1989 III
S. 2449 ff.) wird, auf Antrag, mit Gefängnis mit Busse bestraft,
wer eine unmündige Person dem Inhaber der elterlichen der
vormundschaftlichen Gewalt entzieht sich weigert, sie ihm zu-
rückzugeben.
Täter kann nach dieser Bestimmung grundsätzlich jedermann
sein, der die elterliche Sorge vormundschaftliche Gewalt nicht
allein und uneingeschränkt ausübt. Das bedeutet zunächst, dass ein
Aussenstehender, d.h. eine Person, welche gänzlich unabhängig von
der Familie ist, das Delikt verüben kann. Unter bestimmten Umstän-
den kann aber auch ein Elternteil Täter sein (A. Eckert in: Basler
Kommentar, Strafgesetzbuch II, Basel/Genf/München 2003, N 7 zu
Art. 220).
Gegenüber X. und Y. erging am 19. Juni 2002 durch den Ge-
richtspräsidenten von Z. gestützt auf Art. 175 f. ZGB ein Eheschutz-
entscheid. In dessen Ziff. 2a wurden die Kinder A. und B., beide
geboren am 3. November 1991, für die Dauer der Trennung unter die
Obhut der Angeklagten gestellt und dem Kläger ein Besuchsrecht,
namentlich am ersten und dritten Wochenende eines jeden Monats,
sowie ein Ferienrecht eingeräumt. Gemäss den Erwägungen im ange-
fochtenen Strafurteil erwuchs dieser Entscheid erst am 23. August
2002 in Rechtskraft, somit nach den hier zu beurteilenden Vorfällen
vom 19. - 21. Juli und 2. - 4. August 2002. Ebenfalls laut dem ange-
fochtenen Strafurteil hatte der Gerichtspräsident aber mit vorsorglich
sofortiger Verfügung vom 20. Dezember 2001 im Rahmen des mit
Klage von X. vom 21. Oktober 2001 eingeleiteten Eheschutzverfah-
rens die beiden Kinder unter die Obhut der Angeklagten gestellt und
dem Vater ein Besuchsrecht eingeräumt. Damit steht fest, dass die
Angeklagte im Zeitpunkt der hier zu beurteilenden Vorfälle allein
obhutsberechtigt war.
Nach massgebender Lehrmeinung kann nun der (alleinige) In-
haber der Obhut nicht Täter im Sinne von Art. 220 StGB sein, na-
mentlich auch dann nicht, wenn er das Besuchsrecht des andern El-
ternteils vereitelt. Denn Art. 220 StGB schützt nicht die elterliche
Sorge als solche, sondern das Recht, über den Aufenthalt des Un-
mündigen zu bestimmen. Das Besuchsrecht ist nicht Ausfluss dieses
Rechts. Hinzu kommt, dass bei anderer Betrachtungsweise der El-
ternteil, der das Besuchsrecht vereitelt, während des Scheidungsver-
fahrens als Täter(in) in Frage kommt, nach Eintritt der rechtskräfti-
gen Scheidung eine Strafbarkeit derselben Person aber ohnehin ent-
fällt (wenn nach Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes im Ehe-
schutzverfahren bei vorsorglichen Massnahmen im Scheidungs-
oder Trennungsverfahren die elterliche Sorge beider Eltern aufgrund
von Art. 297 Abs. 2 ZGB weiterbesteht [es sei denn, sie werde vom
Richter einem Elternteil übertragen], nach der Scheidung die elterli-
che Sorge indessen aufgrund von Art. 297 Abs. 3 i.V. mit Art. 133
Abs. 1 ZGB nur einem Elternteil zusteht [es sei denn, die Eltern
hätten gemäss Art. 133 Abs. 3 ZGB das gemeinsame Sorgerecht]).
Diese unterschiedliche Behandlung des gleichen Elternteils - einfach
zu verschiedenen Zeitpunkten - ist schwer begründbar (Basler Kom-
mentar, a.a.O., N 12 f. zu Art. 220; s.a. Schubarth, Kommentar zum
Schweizerischen Strafrecht, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Be-
sonderer Teil, 4. Band, Bern 1997, N 38 zu Art. 220). Im zitierten
Basler Kommentar wird unter Hinweis auf BGE 98 IV 37 erwähnt,
dass die Praxis die Frage der Anwendbarkeit von Art. 220 StGB auch
auf den obhutsberechtigten Elternteil zu bejahen scheine, vorausge-
setzt, dass das Besuchsrecht durch bindende Konvention der Parteien
oder richterlichen Entscheid festgelegt wurde.
Im neuesten Entscheid des Bundesgerichts vom 2. Juli 2002 zur
Frage der Anwendbarkeit von Art. 220 StGB auf einen Elternteil
(BGE 128 IV 154 Erw. 3.2 S. 159) wurde unter Hinweis auf frühere
Urteile ausgeführt, es könne sich auch ein Elternteil der Entziehung
eines Unmündigen strafbar machen, der seinem Ehepartner das Kind
vorenthalte. Das gelte namentlich für den Fall, dass ein Elternteil,
dem im Rahmen vorsorglicher Massnahmen im Scheidungsverfahren
ein Besuchsrecht zugesprochen worden sei, dieses Besuchrecht über-
schreite bzw. sich weigere, das Kind dem Inhaber der elterlichen Ob-
hut zurückzubringen. Es wurde dazu auf BGE 110 IV 35 Erw. 1c
S. 37, 108 IV 22 S. 24 sowie auf den bereits erwähnten Entscheid 98
IV 35 Erw. 2 S. 37 f. verwiesen, ferner auf BGE 125 IV 14 Erw. 2b
S. 16 und 118 IV 61 Erw. 2a S. 63. Dass der Obhutsinhaber Täter
nach Art. 220 StGB sein könne, wird in den dem BGE 98 IV 35
nachfolgenden Urteilen allerdings nie ausdrücklich gesagt, und in je-
nem Entscheid aus dem Jahre 1972 (Pra 61 [1972] Nr. 153), der nach
der zitierten Meinung im Basler Kommentar die Strafbarkeit des
Obhutsinhabers zu bejahen scheine, wurde vorausgesetzt, dass dem
sein Besuchsrecht geltend machenden Elternteil die (nicht ausgeübte)
elterliche Gewalt gemeinsam mit dem andern Elternteil sogar
ausschliesslich zustand, was im hier zu beurteilenden Fall nicht zu-
traf. Weiter wurde ausgeführt, dass ein Ehegatte (gemeint: mit teil-
weiser ausschliesslicher, aber nicht ausgeübter elterlicher Ge-
walt), der befürchte, die Ausübung seines Besuchsrechts werde vom
andern Gatten erschwert vereitelt, den Richter gemäss Art. 145
aZGB ersuchen müsse, vorsorgliche Massnahmen zu treffen, um die
Ausübung seines Besuchsrechts unter Androhung der Strafen von
Art. 292 StGB sicherzustellen. Diese Auffassung wird auch im er-
wähnten Basler Kommentar vertreten, wenn ausgeführt wird, es sei
dem Besuchsberechtigten unbenommen und ohne weiteres zuzumu-
ten, sein Recht auf zivilprozessualem Weg durchzusetzen, wobei der
zuständige Richter immer noch den Hinweis auf die Strafdrohung
des Ungehorsamstatbestands (Art. 292 StGB) machen könne (a.a.O.,
N 13 zu Art. 220). Beizufügen ist, dass anlässlich der StGB-Revision
von 1989, die zur heutigen Formulierung von Art. 220 StGB führte,
in der Botschaft des Bundesrates die Auffassung vertreten wurde, es
bestehe keine Notwendigkeit, das Besuchsrecht jenes Elternteils, der
keine elterliche Gewalt mehr habe, durch Art. 220 StGB besonders
zu schützen; Art. 292 StGB (Ungehorsam gegen amtliche Verfügun-
gen) dürfte zur Durchsetzung dieser Rechte genügen (BBl 1985 II
S. 1060).
3. Es steht somit auch nach der bundesgerichtlichen Praxis nicht
fest, dass der (alleinige) Obhutsinhaber Täter nach Art. 220 StGB
sein kann (vgl. auch Basler Kommentar, a.a.O., N 14 zu Art. 220, mit
dem Hinweis auf BGE 104 IV 90 und 125 IV 14, wonach Täter nur
derjenige sein könne, dem die Kinder nicht zugesprochen wurden).
Lehnt zusätzlich die aktuelle Lehre die Anwendbarkeit von Art. 220
StGB in diesem Sinne mit guten Gründen ab (s.a. Donatsch/Wohlers,
Strafrecht IV, 3. Aufl., Zürich 2004, S. 25; Stratenwerth, Schweizeri-
sches Strafrecht, Besonderer Teil II, 5. Aufl., Bern 2000, N 5 zu
§ 27), kann der (allein) obhutsberechtigte Elternteil, der dem andern
das Besuchsrecht verweigert, nicht nach Art. 220 StGB bestraft wer-
den. Stratenwerth (a.a.O.) weist zwar darauf hin, dass der Vorentwurf
der Expertenkommission zur Teilrevision von 1989 vorgesehen habe,
Täter des Delikts könne nur noch sein, wer nicht Inhaber der elterli-
chen Gewalt sei, wobei aber der Gesetzgeber diesem Vorschlag nicht
gefolgt sei, weshalb die veränderte Schutzrichtung des Tatbestands
als geltendes Recht hinzunehmen sei. Schubarth (a.a.O.) führt indes-
sen zu Recht an, daraus könne nicht geschlossen werden, dass die
Rechtsprechung zur Vereitelung des Besuchsrechts vor der rechts-
kräftigen Scheidung vom Gesetzgeber sanktioniert worden sei; die
Ablehnung des Expertenvorschlags sei ja nicht im Hinblick auf die
Fälle der Vereitelung des Besuchsrechts erfolgt. Zusammenfassend
führt Schubarth aus, die Ausübung des Besuchsrechts durch den Mit-
inhaber der elterlichen Gewalt werde von Art. 220 StGB nicht ge-
schützt.
Demzufolge kann die Angeklagte, der die Vereitelung des Be-
suchsrechts vorgeworfen wird, nicht aufgrund dieser Bestimmung
bestraft werden.
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